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In den letzten Jahren stiegen die Schülerzahlen des Gymnasiums und entsprechend die der Abiturienten steil an, während die Schülerzahlen der Hauptschule ebenso deutlich sanken. Was war geschehen? War die deutsche Jugend (aufgrund der guten Ernährung) intelligenter geworden? War das Gymnasium in früheren Zeiten allzu ungerecht gegen Begabte aus benachteiligten Bevölkerungsschichten abgeschottet? Sind die Anforderungen des Gymnasiums allzu sehr abgesunken?
I. Geschichtliche Entwicklung des heutigen Gymnasiums (grober Überblick)
Nach der Humboldtschen Reform war das Gymnasium etwa 150 Jahre lang vor allem der Ausbildungsort des wohlsituierten Bürgertums. Es öffnete sich zwar um die Jahrhundertwende und später in der Weimarer Republik den neuen Entwicklungen in Naturwissenschaft und Technik, war jedoch nach wie vor nur einer sehr kleinen Gruppe junger Menschen zugänglich. Es blieb ein Institut der oberen Gesellschaftsklassen.
1964 brach plötzlich Panik in der deutschen Bildungspolitik aus. Der Bildungsforscher Georg Picht prägte das Schlagwort "Bildungskatastrophe", womit er meinte, dass Deutschland, gemessen an seinen ökonomischen Konkurrenten, viel zu wenig Studenten produziere, also Nachwuchs für die Leitungsfunktionen in hochkomplexen Industriegesellschaften. Heftig unterstützt von der Wirtschaft forderte er, die Begabungsreserven des Volkes auszuschöpfen. Die bisher bildungsfernen Schichten sollten für die höhere Schule und für das Universitätsstudium gewonnen werden. Beflügelt von dem sozialreformerischen Schwung der sogenannten "Studentenvolte" entstanden solche Bewegungen wie "Student aufs Land", in denen Studenten auf die Dörfer gingen, um in Schulen und Elternhäusern für weiterführende Schulbildung zu werben. In der wissenschaftlichen Pädagogik dominierte zeitgleich eine Richtung, die Begabung fast ausschließlich von sozialen Bedingungen abhängig machte. Das Kind ist nicht begabt, es wird begabt. (Heinrich Roth: Begabung und Lernen.) Im Zuge dieser "Ausschöpfung der Begabungsreserven" expandierten seit den Siebziger Jahren bis heute die Zahlen der Abiturienten und Studenten von Jahrgang zu Jahrgang. Die Universitäten sind stark überlastet, die Klassengrößen an den Gymnasien werden demnächst steigen.
II. Folgen dieser Entwicklung
Im Zuge dieser Entwicklung wurde es immer selbstverständlicher, das Abitur als Basisqualifikation anzustreben. Die Einstellungspraxis der Privatwirtschaft reagierte darauf, bzw. heizte diese Vorgänge weiter auf. Infolgedessen besuchen heute Schüler das Gymnasium – weit über die sogenannte "Ausschöpfung der Begabungsreserven" hinaus -, die nur mit äußerster Mühe dem herkömmlichen Leistungsanspruch des Gymnasiums genügen können. Das erzeugte einige Probleme die heutige Oberstufe:
– Absinken des Leistungsniveaus im Sinne einer Nivellierung der Anforderungen, um die schwachen Schüler nicht zu überfordern, stattdessen sie "mitnehmen" zu können. (In diesem Zusammenhang: der Anspruch der Eltern schwacher Schüler auf Förderung steigt, siehe unten.)
– Das gymnasiale Bildungsprofil scheint diffuser zu werden.
– Kritik (oft überzogen) von Hochschulen und Privatwirtschaft am Aussagewert des Abiturs und damit verbunden:
– Abwertung des Abiturs mit der Forderung nach Verkürzung der Schulzeit und/oder Eingangsprüfungen an den Hochschulen.
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Grundsätzlich halten wir dagegen fest: nach wie vor erfüllt das Gymnasium auch unter den erschwerten Bedingungen seine Aufgaben. Ein guter Abiturient ist heute nicht schlechter, eher besser ausgebildet als vor 25 Jahren.
III. Widersprüchliche Anforderung an die Oberstufe
Wir haben festgestellt, daß die Oberstufe den unterschiedlichsten Ansprüchen von Elternschaft und Öffentlichkeit ausgesetzt ist
[GRAFIK ALS BILD EINFÜGEN]
IV. Vorläufige Antworten bzw. Lösungsvorschläge
Wir haben uns mit den Fragen beschäftigt, die sich an die Oberstufe des Gymnasiums heute richten:
– Sollen wir den bisherigen Leistungsanspruch senken, um möglichst alle bis zum Abitur zu bringen?
– Sollen wir – gemäß den Forderungen der Universitäten – die Anforderungen verschärfen?
Folgende Antworten erscheinen uns zur Zeit tragfähig.
1. Wir sollten uns auf die Verpflichtung des Gymnasiums berufen, nicht nur spezialisierten Nachwuchs für Wirtschaft und Hochschule auszubilden, sondern auch kulturelle Traditionen unserer Gesellschaft weiterzugeben, so daß Verständigungen über bindende Verhaltensmaßstäbe möglich bleiben. (s.u. IV/4)
2. Wir sollten am Ausbildungsanspruch der gymnasialen Oberstufe festhalten. In den Lehrplänen wird er inhaltlich und methodisch formuliert. Auf diesen Anspruch, der öffentlich abgesegnet ist, müssen wir uns zurückbesinnen.
3. Die gymnasiale Oberstufe ist vor allem auch für die Förderung der Begabten zuständig. Dem öffentlichen Schulsystem darf die Spitze nicht abgebrochen werden. wir halten ein starkes Gymnasium mit anspruchsvoller Oberstufe und anerkanntem Abitur für nötig, damit das Ansehen des gesamten öffentlichen Schulsystems erhalten bleibt. Wird das Leistungsniveau der Oberstufe stetig gemindert, sinkt der Wert des Abiturs, so wird die in jeder Gesellschaft nötige Begabtenauslese sich auf Privatschulen, Privatuniversitäten oder Eingangsprüfungen an Universitäten verlagern. Die qualifizierten und höheren Positionen der Gesellschaft müssen aber über die öffentliche Schule erreicht werden können, sonst werden die sozial
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schwächeren Schichten benachteiligt. (Siehe Punkt 1.: Ausschöpfung der Begabtenreserven).
4. Unverzichtbar zu dem Bildungsanspruch der Oberstufe gehört eine Erziehung, die sich an den Wertmaßstäben einer demokratischen Gesellschaft und an einer Ethik der Verantwortung für andere orientiert. (Siehe die Ergebnisse der Gruppe "Erziehung in der Oberstufe" des Studientages.)
Daraus ergibt sich die
NOTWENDIGKEIT EINES DEUTLICHEN GYMNASIALPROFILS
V. Mögliche schulinterne Maßnahmen
1. Schwellen für exakte Schullaufbahnentscheidungen
In Richtung auf die Oberstufe sollte nicht etwa eine scharfe Selektion durchgeführt werden; die Förderung schwächerer Schüler bleibt eine wichtige Aufgabe. Jedoch sollten Schullaufbahnentscheidungen genauer akzentuiert werden an bestimmten Punkten, damit nicht eine Gruppe leistungsschwacher Schüler, die dem oben skizzierten Anspruch nicht gerecht werden kann (wenn man nicht die Anforderungen insgesamt senkt), unter hohem Druck bzw. sehr strapazierter Nachsicht bis zum Abitur "durchgereicht" wird. Durch ungenaue, allzu nachsichtige Laufbahnentscheidungen wird schwächeren Schülern nicht geholfen, denn sie können zu falschen Lebensentscheidungen führen, was die hohe Studienabbrecher-Quote beweist. Wir sollten nicht vergessen, dass das Abitur noch immer die Studierfähigkeit bestätigt.
Notwendig ist also:
Genaue Überprüfung kritischer "Fälle von sehr schwachen Schulleistungen durch die gesamte Klassenkonferenz, Verständigung über versetzungsrelevante Noten am Ende der Klassen 7, 10 und 11.
2. Stärkung des sozialen Engagements in der Oberstufe
Das Bildungsziel "Soziale Kompetenz" und "Soziale Verantwortung" erscheint uns herausragend wichtig, gemessen an den Problemen unserer Gesellschaft. Oft wird das Engagement von Schülern nicht genügend gewürdigt. Wir empfehlen öffentliche Anerkennung wie auch Vermerke in den Zeugnissen; wo möglich auch Rücksichtnahme auf besonders mit SV- Aufgaben belastete Schüler/ – innen. Wir weisen aber auch daraufhin, dass nur Schüler sich engagieren können, die nicht von der Oberstufe überfordert sind und ihre ganze Kraft darauf verwenden müssen, das Abitur irgendwie zu erreichen.
3. Innere Differenzierung in der Oberstufe
Die Methode der Inneren Differenzierung, meist nur mit der Primarstufe und Mittelstufe in Verbindung gebracht, sollte stärker in der Oberstufe angewendet werden: zur Förderung Begabter (die in der Orientierungsstufe und Mittelstufe oft zu kurz kommen).
Diese Überlegungen erarbeitete die Gruppe:
Brauneck, Dr.Frischholz, Gneist, Heck, Kuon-Rehm, Dr. W. Matron, Moritz.
i.A. Gneist