Polyphone Musik, eine Sicht aus unseren Tagen


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Polyphonie, die mehrstimmige Musizier- bzw. Kompositionsweise, bei welcher die einzelnen Stimmen gleichberechtigt agieren, dabei auch Eigenständigkeit haben und trotzdem zum Gelingen des Ganzen beitragen, solches hat bis heute keinen spürbaren Siegeszug gemacht. Schade ist das schon, denn vieles spricht für eine angemessene, also stärkere Beachtung solcher Musik. Das müssen im 15. und 16. Jahrhundert viele Menschen gemerkt haben. Denn damals im Zeitalter der Niederländer, als viele Musiker dieses Volkes bis nach Italien kamen und in Europa hervorragend gewirkt haben, war Polyphonie das musikalische Kunstideal. Es hat mit Sicherheit gut getan und verdrängte auch nicht den schlichten und in der Regel monophonen Satz. Es hieß logisch und menschlich: Polyphonie bei großer Geste, in großem Rahmen, und Homophonie bei kleiner Geste, also z.B. im persönlichen Bereich. Seit dem 17. Jahrhundert hat sich dann im Zuge des

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Aufkommens der Gattung Oper und im Bemühen, den Text verständlich zu machen, eine Dominanz homophoner Musik breit gemacht. Homophonie in mehrstimmiger Musik, das ist der Fall, wenn es eine führende Stimme gibt und die anderen Stimmen begleiten, also angepasst und untergeordnet sind. Die Führung liegt meist in der Oberstimme. Nun aber zurück zur polyphonen Musik! Man verbindet sie heute schnell mit Johann Sebastian Bach und der künstlerischen Form der Fuge. Aber Bach – wir sind in der 1. Hälfte des 18. Jahrhunderts – war mit seinem hohen Anteil polyphoner Musik nicht modisch oder in der Sicht seiner Zeitgenossen gar progressiv. Er hat vielmehr aus musikalischen, also menschenfreundlichen Gründen zur Fuge gehalten. Und so haben auch später, als Polyphonie aus dem gesellschaftlichen Wandel heraus noch unmoderner wurde, alle großen Meister auch Fugen komponiert, in den Werken die Form des Fugato eingebaut und in homophonen Teilen sinngemäß Auflockerungen hineingebracht. Inzwischen war gegen Mitte des 18. Jhd. mit dem Sturm und Drang ein neuer Stil aufgekommen, wo man in innerer Unruhe und Kampfbereitschaft in homophoner Weise voranstürmte. Mit gleichzeitiger Sensibilisierung und Aufwertung des Gefühlsmäßigen kam damals allerdings auch eine mäßigende und menschenfreundliche Dimension hinzu. Und bei alledem blieben z.B. Mozart und Beethoven der Form der Fuge treu, sehen in ihr sogar einen Gipfel menschlich – gesellschaftlichen Ausdrucks. Und solches müsste heute von den verantwortlichen Musikern stärker beachtet und geschätzt werden. Denn Fuge, also polyphone Musik, hat viel mit Demokratie zu tun. Sie steht für Aktivität, Gleichheit, geistigen Anteil und Mut zur eigenen Persönlichkeit. Und solches könnte unserer Demokratie wirklich aufhelfen. Und gleichzeitig würde man den Siegeszug überbetonter Werke wie z.B. die Opern des Herrn Richard Wagner, die Produkte unserer Musicalschwemme oder die Kompositionen derer, die im 3. Reich gut zurechtgekommen sind, zurückdrängen. Auch sollte wieder bewusst werden, was Musik eigentlich ist, nämlich eine Sprache mit Tönen, Klängen und Rhythmen. Es ist der Bereich der menschlichen Gefühle, welcher durch die Wichtigkeit von Texten förmlich unterdrückt wird. Zurück zur Musik! Homophonie bedeutet aber nicht unbedingt weniger Demokratiebewusstsein. Und nebenbei angemerkt: Gotteslob durfte man schon mal mit großer Geste und prächtigen Akkorden musizieren, und eine heile (homophone)

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Welt in kleinem Rahmen, ja darauf wollen wir alle nicht verzichten. Aber es geht mir um die große Geste, um Musik von gesellschaftlicher Bedeutung, welche auch in einem demokratischen Staat von großem Einfluss ist. Und hierbei strahlen die Klänge, Akkorde, wenn sie kreativ und glaubwürdig sind, Spannung und Lebensfrische aus. Sie zeigen das, was auch im Leben ehrlicherweise und notwendigerweise vorzufinden ist. Das gilt für unsere europäische Musik genauso wie z.B. für den Jazz. Da gibt es im kreativen Swing vielfache Spannungsanreicherungen und "Schrägheit" innerhalb homophoner Gestaltung. Es ist Ausdruck von Leben und Optimismus. Eine Oberstimme dominiert nicht so, dass die anderen untergeordnet bleiben. Jeder Spieler, Mitbürger, kann sich beachtet und gleichwertig fühlen. Die Unterdrückung menschlicher Persönlichkeit, solches betreiben seit Jahrhunderten viele Mächtige unserer Welt. Sie erreichen es mit bewährten Methoden, aber auch mit Hilfe von Musik. Im Kaiserreich z.B. waren es die staatlich verordneten Lieder. Heute sagt man "Songs". Wir sind doch nicht etwa schon wieder soweit? Schade, dass Musik anscheinend ein so unwichtiger Bereich ist!

W. Sauer

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