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Kurze Notizen zu einem unterschätzten Fach oder: "Mit Religion macht mir hier keiner Abitur…" (Zitat: ein Schulleiter des Westerwaldkreises)
Religionsunterricht kommt in den letzten Jahren zunehmend und im Maße wie kein anderes Fach unter den Zwang, seine Existenz zu rechtfertigen. Die soziale und moralische Stabilisierung glaubt man mehr und mehr anderen Fächern übertragen zu können, der Begriff der weltanschaulichen Neutralität des Staates erfährt mehr und mehr eine Inhaltsverschiebung hin zum "Gleichgültigen" und scheint für viele in einem Fach wie "Philosophie" oder "Lebensgestaltung, Ethik, Religionskunde (LER)" – auch unter dem Aspekt leerer Kassen – gut aufgehoben zu sein.
Religiosität verschwindet zunehmend in unserer Gesellschaft; Aufklärung wird als notwendige Trennung des Menschen vom Transzendenten (miss-)verstanden, Kirchenkritik als Religionskritik gedeutet. Naturwissenschaften und sogenannte Kulturwissenschaften werden vor dem Rechtfertigungsdruck als ordentliche Fächer, mit denen man später "Geld verdienen kann", die man "für das Leben braucht" unter ökonomisch motivierten Schutz gestellt, wobei die geistige Situation bei uns unreflektiert auf die ganze Welt projiziert wird. Dabei wäre zu beachten, dass diese Säkularisierung unserer Welt lediglich auf Mittel- und Westeuropa beschränkt bleibt und keinesfalls ein globales Phänomen darstellt: Die übrige Welt ist davon nicht erfasst (Vgl. religionssoziologische Untersuchungen von Berger u. a.). Nun muss die Mehrheit nicht immer in der Wahrheit sein, doch stimmt es mich nachdenklich, dass viele Menschen anderswo – im Gegensatz zu uns – in ihrer je eigenen Religion und deren Ausformung etwas Unverzichtbares und durchweg Positives und Erhaltenswertes sehen.
Wo liegen die Vorteile des Sinnes für Transzendentes und wo die Nachteile unserer Säkularisation? Das Denken mit dem Transzendenten lässt die Wirklichkeit, wie wir sie vorfinden, nicht als die einzige Möglichkeit erscheinen, sie wird nicht einfach so gesehen, wie sie sich darstellt sondern immer werden auch ihre anderen Möglichkeiten der Wirklichkeit mit gesehen. Diese Möglichkeiten werden erlaubt und in dem Begriff "Hoffnung" zusammengefasst. Manchmal werden diese anderen Möglichkeiten durchgespielt, auch wenn das in institutionalisierter Form stattfindet (Karneval, Narren, Ekstase u.a.m.). Es steckt ein Potential der Veränderung und Kritik in dem Rechnen mit dem Transzendenten, es ist in dieser Perspektive revolutionär. Die säkularisierte Welt hat den Nachteil der Flachheit, es ist eine "Welt ohne Fenster", sie bleibt in der Wirklichkeit des Alltags stecken, unbefriedigend, unbefriedigt und zu kraft- und quellenlos, um entscheidende Impulse liefern zu können. In den tragischen Dimensionen des Lebens wird diese Impulslosigkeit zuerst als Problem (Dilemma?) gespürt, auch heute noch.
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Es wird deutlich, dass der Mensch "etwas braucht, das er nicht selbst geschaffen hat". Mit dem Menschen ist untrennbar verbunden seine (im ganz allgemeinen Sinne verstandene) Religiosität, die ihn erst zum Menschen macht und zum Menschsein befähigt. Ein Mensch, der sich als a-religiös bezeichnet, muss dennoch erklären, worauf er seine Hoffnungen stützt, worauf er sich verlässt, woher er Vertrauen gewinnt: Dies ist letztlich nichts anderes als Religion. Religion und Religionsunterricht werden "Anstiftung zur Hoffnung" und bietet (übernehmbare, modifizierbare, diskutierbare, ablehnbare) Sinndeutungsmöglichkeit und damit einen zum Reifen notwendigen Reibungspunkt. Daraus eine allgemeine Religionskunde ohne engen Bezug zu den Religionsgemeinschaften (diesen in aller Freiheit der Vernunft) ableiten zu wollen, wäre fatal. Dazu ein Bild: Was wäre das Ergebnis, würde man mit seinen Kindern nicht deutsch sprechen, um ihnen für später die Möglichkeiten offen zu halten, sich für eine Sprache zu entscheiden? Vermutlich Sprachlosigkeit. Daher muss konkreter Glaube auch Thema sein, ein Thema, das mich unbedingt angeht, an mein Innerstes rührt. Religion kann nicht als Gegenstand "Religion" behandelt werden, sondern muss in seiner Kommunikation mit mir wahrgenommen und in diesem Sinne "zur Sprache gebracht werden". Dabei kann RU nicht der Rekrutierung von Gläubigen dienen, sein Subjekt ist nicht die Gemeinschaft mit ihren Ansprüchen an den einzelnen Menschen, sondern der einzelnen Menschen selbst als, nun christlich gesprochen, Abbild Gottes, mit seinen Bedürfnissen, Ängsten, Hoffnungen und Möglichkeiten. Dann wird RU zum Anwalt des Menschen (besonders des Schülers). Er wird sich allen Bestrebungen widersetzen, die in die Persönlichkeit des Menschen eingreifen, er ist in diesem guten Sinne liberal und individuell, ohne das Bedürfnis nach Gemeinschaft und die damit verbundenen Einschränkungen zu leugnen oder ganz beseitigen zu wollen.
RU muss effektiv sein, das wird von ihm erwartet, und nur dann hat er seine Berechtigung in der Schule. Effektiv sein heißt zielorientiert sein. Das darf nicht, wie schon von politisch Verantwortlichen zu hören war, mit effizient verwechselt werden: Hier wäre m.E. von Mammonorientierung zu sprechen und man kann nicht zwei Herren dienen, Gott (oder damit seinem Abbild dem Menschen) und dem Mammon. Im RU ist die Entscheidung ganz klar gefällt.
Über diese Überlegungen hinaus hat der RU auch der Gemeinschaft einiges zu bieten:
1. Er ist Stachel und revolutionäres Potential, sich nicht mit dem Jetztzustand zufrieden zu geben und damit ist er innovativ, wertekonservativ, nicht strukturkonservierend.
2. Der Mensch merkt ohne religiöse Bindung nicht, was ihm fehlt, manchmal merkt er nicht einmal, dass ihm etwas fehlt. Aber die anderen merken es (die Gemeinschaft), nicht erst dann, wenn die so entstandenen Leerstellen mit bösen Parolen gefüllt und Flaschen mit Benzin werden.
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3. Im Kanon der Fächer kann RU in besonderer Weise als Anker- und Verknüpfungsfach für fächer- und perspektivenübergreifenden Unterricht sein, da er Vernetzungsmöglichkeiten auf der inneren Ebene der anderen Disziplinen und – notwendigerweise – den Überblick über zielverwandte Fächer (s.o.) bietet.
Er leistet wichtige Grundlagenarbeit hinsichtlich der Sprach- und Denkentwicklung, durch didaktische Entwicklung von (echtem) Symbolverständnis. (Sprachen, Mathematik, Kunst, Musik).
Er relativiert den Machtanspruch von Institutionen und von unechtem "Heiligem", indem er die Entwicklungen, deren Zufälligkeiten und damit die historische Genese von Texten, Einrichtungen und Vorstellungen (!) darstellt und hinterfragt und somit auch erkenntnistheoretische Fragestellungen erörtert (Literatur, Philosophie, Geschichte, Politik , Sozialkunde, Naturwissenschaften).
Er hilft dem Schüler Freiräume zu schaffen, in denen nicht alles schon gedacht ist; er hält die Frage nach dem Menschen, seinem Sinn und Sein offen (Naturwissenschaften, Philosophie, Soziologie, Psychologie).
Er lehrt durch die Relativierung der eigenen Möglichkeiten das wiederholte Fragen (Naturwissenschaften) in der Hoffnung auf sich ändernde Antworten und bietet einen Ansatz für eine aktive (!) Gelassenheit im Umgang mit meinen Möglichkeiten und Fähigkeiten und denen meines Gegenübers. Dadurch kann er stark zur Schaffung einer guten Atmosphäre im (Leistungs-)System Schule beitragen, nicht allein durch diese psychische Entlastung, sondern auch durch die Tatsache, dass der Mensch einmalig (im christlichen Sinne einzigartig) ist. Der Begriff der Gnade kann hier auch Erwähnung finden. Wenn dem Einzelnen deutlich wird, dass er eine unverwechselbare Perle ist, geliebt auch ohne Leistung, relativieren sich Versagensängste und leistungsbezogene (Selbst-)Überforderung. Um in dieses umzusetzen, bedarf es eines gerüttelten Maßes an Vertrauen: zwischen den Schülern und zwischen Lehrern und Schülern; der Gewissheit, dass Leistung nicht alles ist, dass es andere Leistungen gibt als die in anderen zusammenhängen gemessene. Die Möglichkeiten dazu muss der Lehrer zu schaffen versuchen. Er muss bereit sein, den "Seelsorger" zu spielen: Chance und Bürde. Vielleicht ist er der "Narr Gottes", der die Wirklichkeit auf "Fenster" abklopfen und Neues und "Verrücktes" probieren muss. Vielleicht ein Ritter von der traurigen Gestalt? Gewiss?
Bei all dem ist er in Glaubensfragen im allerbesten Fall lediglich primus inter pares. Dies wird sich auf den Umgang mit- und die Achtung voreinander auswirken. Dabei kann (und soll) der RU zur Oase werden, die Lehrer und Schüler sich hart werden erarbeiten müssen, die keinesfalls gewonnen bleibt, sondern täglich und immer aufs Neue erkämpft, bewahrt und geschützt werden muss. Über diese anthropologischen, pädagogischen und schulischen Begründungen hinaus, findet im RU die Einordnung verschiedenster Kulturgüter statt (Kirchen, Klöster, Schriften, Moscheen u. v. m.). Man könnte diese Begründung eine kulturhistorische nennen. Ein
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letzter Punkt: Wenn heute so sehr von Globalisierung gesprochen wird mit ihren Chancen, aber auch dem Risiko, ihr nicht gewappnet zu sein, möchte ich zum Ausgangspunkt meiner Überlegungen zurückkommen: In einer mehrheitlich religiösen Welt ist eine religiöse Erziehung (mit der inneren Komponente des Nachvollzogen – Habens) notwendig zum Verstehen des anderen Menschen. Und nur wer ihn versteht, kann mit ihm handeln.
A. Schmidt