Neubeginn und Kontinuität – Das Westerwald-Gymnasium Altenkirchen 1945-1950

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Das Westerwald-Gymnasium Altenkirchen 1945-1950

Gewidmet dem Andenken an Frau Dr. Elisabeth Dahmen (1907-1986), erste Schulleiterin des entstehenden Gymnasiums Altenkirchen, kommissarisch beauftragt, bis ein ranggemäßer Schulleiter eingesetzt wurde; gewissermaßen eine »Trümmerfrau« der Schule.

Keine Stunde Null

In vielen Arbeiten zur deutschen Nachkriegsgeschichte seit 1945 ist das Bild von der Stunde Null bemüht worden. In der historischen Forschung setzt sich allerdings allmählich die Einsicht durch, dass diese Betrachtungsweise sich zu sehr auf den als Katastrophe empfundenen Einschnitt dermilitärischen Niederlage, den Verlust der staatlichen Souveränität, die Zerstörung materieller Werte oder – als deren Folgen – die vielfältigen Mangelsituationen bezieht.

Zwar lassen sich verschiedene Elemente des Neuanfangs finden, wenn auch oft unter Anknüpfung an (verschüttete) Traditionen, doch daneben blieben – oft zunächst wenig beachtet – in vielen Bereichen die alten Strukturen erhalten. Denn entweder hatte der Na­tionalsozialismus nur wenig oder keine Veränderungen (mehr) vorgenommen oder länger andauernde Prozesse liefen weiter, die auch in den im Jahren nicht unterbrochen wurden, oder die Veränderungen der NS-Zeit wurden rasch als »überwunden« betrachtet.

Dank einer für das Gymnasium Altenkirchen günstigen Quellenlage kann gezeigt werden, dass diese Mischung aus Neuanfang und Beharrung die Entwicklung bestimmt hat, seit die französische Besatzungsmacht, die Ende Juni 1945 die Amerikaner ablöste, für den Oktober die Wiedereröffnung der Schule anordnete. in Altenkirchen ließen die Umstände allerdings erst einen Unterrichtsbeginn am 15. 11. 1945 zu. Dieses Datum kann daher als das »Gründungsdatum« unserer Schule gelten.

Unter der französischen Besatzungsverwaltung kamen dienstliche Anweisungen in Schulangelegenheiten normalerweise aus Koblenz; soweit die Stadt als Schulträger betroffen war, wurde mit dem Anisbürgermeister zusammengearbeitet, in polizeilichen oder sozialen Fragen mit der Kreisverwaltung. Parallel dazu wirkte der französische Kreisbeauftragte aber eher auf die Kreisverwahrung ein, in schulischen Angelegenheiten Berichte von der Schule anzufordern oder er forderte sie direkt in französischer Sprache an. Antworten hatten auf französisch zu erfolgen. Ebenso finden sich Anweisungen, die das Oberpräsidium in Koblenz deutlich als verlängerten Arm der Militärregierung ausweisen und über den Amtbürgermeister die Schule erreichten. Auch wurden in einer

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Angelegenheit zuweilen sowohl der Landrat als auch der Amtbürgermeister bemüht. Viele Vorgänge konnten erst rechtskräftig werden, wenn die zuständige Behörde die Genehmigung der Franzosen hatte. Dennoch wurde zuweilen so gehandelt, als ob sie bereits vorgelegen hätte.

Ein alter Wunsch wird Wirklichkeit: Ein Gymnasium für Altenkirchen

An anderer Stelle ist bereits ausführlicher beschrieben worden, dass es seit Ende des 18. Jahrhunderts immer wieder mehr oder weniger intensive, aber letztlich 150 Jahre erfolglose Bestrebungen gegeben hatte, der kleinen Verwaltungsstadt Altenkirchen eine höhere Schule zu geben, die mit dem Recht auf ein Universitätsstudium endete. Daran waren vor allem die Beamten, sicher auch die Kaufleute am Ort interessiert, die für ihre Kinder bessere Chancen sahen, wenn diese nicht einen 12-Stundentag für den Schulbesuch in Betzdorf in Kauf nehmen oder mit 15 Jahren das Elternhaus verlassen mussten, um eine bessere Bildung zu erhalten. Nachdem weder in preußischer, noch republikanischer und nationalsozialistischer Zeit den wiederholten Gesuchen entsprochen worden war, bot der Wechsel der Schulpolitik wie der Übergang der ausführenden Verwaltung auf andere Personen eine neue Chance, das alte Ziel wieder ins Auge zu fassen.

Bereits im September 1945, noch vor Aufnahme des Unterrichts, haben die Oberlegungen zum künftigen Status der Schule in der Korrespondenz der neuen Schulleitung eine Rolle gespielt. So wurde dann bereits im ersten neuen Schuljahr eine 10. Klasse genehmigt, die 1946 auch eingerichtet wurde. Die ungünstigen äußeren Verhältnisse der Zeit mit den oft gestörten Verkehrsverbindungen nach Betzdorf lieferten dann das Argument, 1947 mit der ii. Klasse den Einstieg in die Oberstufe zu beantragen. 1948 folgte der Antrag auf eine 12. Klasse. Zwar wurde ausdrücklich eine Weiterführung bis zur Reifeprüfung nicht versprochen, doch ist 1949 die Einrichtung einer 13. Klasse genehmigt worden. Im Januar 1950 wurde zwar der Schule noch einmal bekräftigt, die Oberstufe solle ein Provisorium bleiben, aber nach dem ersten Abitur am 21. 6. 1950 erfolgte die endgültige Anerkennung als »Vollanstalt«.

Neue Herren, neue Ziele? Französische Einflussversuche auf die Schule

Frankreich ist in so kurzer Zeit vom besetzten Land zur Besatzungsmacht geworden, dass es eine inhaltliche und personelle Vorbereitung der Besatzungszeit nicht geben konnte, erst recht nicht im Bildungsbereich. So reichte die Palette von der Improvisation über widersprüchliche Entscheidungen bis zur persönlichen Initiative engagierter Franzosen. Ein erstes Ziel war schon bald ausgemacht, nämlich die Kinder und jugendlichen wieder gesellschaftlich zu integrieren, nachdem die Schließung der Schulen, die Auflösung der NS-Jugendorganisationen und die teilweise Zerrüttung der Familien (fehlende Väter, Evakuierung und Flucht, vorübergehende Trennung) erste Spuren der Orientierungslosigkeit zeigten. Alle späteren Lageberichte enthalten Angaben zum »Jugendproblem«.

So fiel schon bald nach der Ablösung der Amerikaner als Besatzungsmacht die Entscheidung, die Aufnahme des Schulbetriebs vorzubereiten, obwohl weder die personel-

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le noch die räumliche oder sachliche Basis gegeben waren, um neue inhaltliche Vorstellungen umzusetzen.

Die inhaltlichen Ziele, die sich mit dieser sehr frühen Maßnahme verbanden, lassen sich aus den Ergebnissen und Fragestellungen einer Umfrage rekonstruieren, die im Kreis im August 1946 unter allen Schülern abgehalten wurde.

Der Fragebogen lässt die folgenden Absichten erkennen:

  Kenntnisse über die Wirkung der nationalsozialistischen Jugenderziehung zu erlangen;

    Vorstellungen über geistige Strömungen und Interessenlagen zu gewinnen;

    Einstellungen zur Schule zu erfahren;

    Chancen zur Durchsetzung separatistischer Ideen im Rheinland zu erkunden;

    Einblicke in den Umfang gewünschter völkerverbindender Kontakte zu erhalten. Die Ergebnisse waren im Sinne der Besatzungsmacht überaus ernüchternd.

  Während der direkten Frage eines Urteils über den Nationalsozialismus die Hälfte unter Hinweis auf ihr jugendliches Alter auswich, äußerten sich 30 % negativ, aber noch 20 % positiv über den Nationalsozialismus. Die Antworten zur Frage über den NS-Unterricht machten überdies deutlich, dass die Schule im Nationalsozialismus mit der starken Betonung von Sport und Disziplin offenbar großen Eindruck gemacht hatte.

  Besonders beklagte der Kreisbeauftragte das völlige Fehlen von Idealen wie Suche nach Frieden, Erkämpfung persönlicher Freiheitsrechte oder Erziehung zur Kritikfähigkeit.

  Die geistigen Wünsche konzentrierten sich auf Lesen; Politik wurde ausdrücklich abgelehnt. Sport rangierte weit oben auf der Wunschskala. Überdies wurde immer wieder auf die kargen Essensrationen hingewiesen, die keine geistige Betätigung zuließen.

  Den Lehrern standen die Schüler mit Respekt gegenüber, allerdings in misstrauischer Erwartung, jetzt erneut einer propagandistischen Beeinflussung ausgesetzt zu werden.

  Der Separatismus hatte auch nicht den Hauch einer Chance.

  40 % weigerten sich, Kontakte zu französischen jugendlichen aufzunehmen, ein Teil der übrigen sah nützliche Möglichkeiten zum Spracherwerb.

Daraus hätten für die Schule neue übergeordnete Lernziele abgeleitet werden müssen wie

– Friedenserziehung,

– Erziehung zur Demokratie,

– Erziehung zur Kritikfähigkeit,

und es hätte ein umfassendes Programm zur Begegnung mit jungen Franzosen entwickelt werden müssen.

Die Umfrage zeigte, dass im Oktober 1946 noch nicht einmal ansatzweise diese Ziele erreicht waren. Der Kreisbeauftragte führte dies auf die ungenügenden Anstrengungen

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des deutschen Lehrpersonals zurück, obwohl er eigentlich kaum so naiv sein konnte anzunehmen, dass unter den herrschenden Bedingungen und in derart kurzer Zeit bereits Ergebnisse hätten vorliegen können.

Denn die ganze Schwäche des Konzepts zeigte sich in der Tatsache, Unterricht naturgemäß von dem Personal gegeben werden musste, hatte und dabei die völlig anders gerichteten Ziele zu vertreten hatte. Das bedeutete eine Ausbildung auf dem Stand der Kenntnisse der 20er und 30er Jahre, Unterrichtserfahrung in den alten Fächern mit deren vor allem in den dreißiger Jahren formulierten Zielen, politische Beeinflussung im Nationalsozialismus und – wenn überhaupt – geringe Erfahrungen mit der Demokratie, keine mit ihrer Vermittlung.

Für eine wirksame Umsetzung des veränderten Konzepts hätte man den Unterricht bis zur erfolgreichen Weiterbildung des alten oder der Rekrutierung neuen Personals erst einmal ausfallen lassen müssen. Dagegen sprachen aber schließlich andere Gesichtspunkte.

Statt dessen lief ein Verfahren ab, das man mit dem Begriff »Entnazifizierung« wohl falsch umschreibt. Die von der »politischen Bereinigung« erfassten Lehrer waren in Altenkirchen zur Hälfte NSDAP-Mitglieder gewesen; diese wurden z. T. mit Gehaltskürzungen belegt, in einem Fall – vorübergehend – im Dienstrang zurückgestuft. Dabei wurde eher die aktive Teilnahme am Parteileben als die reine Mitgliedschaft bewertet, Die Mitgliedschaft im NS-Lehrerbund hatte für alle Lehrer gegolten; sie blieb ohne Bedeutung. Das Ergebnis war also von kosmetischer Natur, da das gesamte Personal letztlich weiter Unterricht gegeben hat.

So musste man sich mit einem Bündel von Maßnahmen helfen:

– Um sicherzustellen, dass keine unerwünschten Unterrichtsinhalte von politisch unzuverlässigen Lehrern vermittelt würden, erging ein Verbot des Privatunterrichts.

– Alle Lehrer hatten monatliche, nach Fächern und Klassen gegliederte Tätigkeitsberichte zu erstellen. Die Aussagekraft ging nicht über die Klassenbucheinträge heutiger Form hinaus.

Bedenkt man, dass noch in den 5oer und 6oer Jahren Erdkundebücher zuweilen von rassistischen und kolonialistischen Aussagen durchsetzt waren, so konnten die Unterrichtsinhalte, die in den ersten Nachkriegsjahren meist noch ohne Schulbücher vermittelt wurden, kaum frei von diesen Tendenzen sein.

– Der gesamte Schulbuchbestand, der in Altenkirchen allerdings verbrannt war, wurde erfasst und zensiert. Dabei wurden vollständige Werke, aber auch nur Kapitel oder Abschnitte oder einzelne Seiten, Aussagen oder Bezeichnungen beanstandet. Von den in Altenkirchen nach 1933 benutzten 14 Schulbüchern in z. T. mehreren Bänden sind nur zwei in den ersten 2 Jahren wiedergenehmigt worden (Englisch, Latein), eines (Physik) wurde ausdrücklich verboten, alle übrigen tauchten in den Schulbuchlisten nicht wieder auf, sind also entweder direkt verboten oder durch neue Werke ersetzt worden, ohne dass die Verlage die Zulassung beantragten. In

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Geschichte z. B. wurde als erstes Werk 1946 eine Geschichte des Altertums zugelassen.

– Das Filmmaterial, das an den Bildstellen den Krieg überstanden hatte, in Altenkirchen aus Trümmern gerettet, wurde gesichtet und in einer Genehmigungsliste erfasst. Filme zum Geschichtsunterricht waren nicht enthalten, auch nicht die, die heute wieder verwendet werden können.

– Neben die Kontrollmaßnahmen traten auch konstruktive Angebote. Für das Lehrpersonal wurden Umschulungskurse in Betzdorf gehalten, deren Inhalte in den eingesehenen Quellen nicht direkt zu erschließen waren. Der Charakter derartiger Belehrungen wird aber wohl aus einer Rede deutlich, die zur Verlesung kam und‘ deren Kenntnisnahme abzuzeichnen war. Die Rede wurde vom obersten Informationsdirektor anlässlich der Kommunalwahlen vor deutschen Journalisten gehalten. In ihr wurden die Tendenzen zur Verdrängung der NS-Zeit gerügt, an den Charakter der deutschen Besetzung Frankreichs erinnert, französische Erwartungen an die deutsche Entwicklung zu Demokratie und Völkerverständigung formuliert um Verständnis für die Ernährungsprobleme der französischen Zone angesichts der innerfranzösischen Versorgungslage geworben, die Problematik der Entnazifizierung aufgezeigt, französische Vorstellungen zur geistigen Erneuerung Deutschlands und die französische Hilfestellung dazu erläutert und auf die Bedeutung demokratischer Wahlen hingewiesen.

– Französische Zeitschriften wurden den Schulen übersandt bzw. angeboten und Lehrern die Teilnahme an internationalen Pädagogentreffen nahegelegt.

– Besondere Lehrerbildungseinrichtungen wurden zwar zunächst angestrebt, aber nicht durchgesetzt, wohl um Ärger mit dem vorhandenen Personal zu vermeiden. Schließlich wurde versucht, die traditionelle Lehrerbildung in ihrem rein fachlichen und allgemein pädagogischen Charakter durch politischen Unterricht für alle Referendare zu erweitern.

– Um mangelnde Angebote der Schule an ihre Schüler in einigen Bereichen zu kompensieren, wurde der briefliche, später auch persönliche Kontakt zu französischen jugendlichen angeboten, aber offenbar nur wenig genutzt.

– Den Schulen wurden französische junge Lehrer als Assistenten zugewiesen, deren wohl mehr theoretisch zu sehende Aufgabe die Vermittlung von Ethik und Staatsbürgerkunde war, die diese praktisch aber kaum geleistet haben.

– Wie wenig sich die französischen Stellen auf die Schule bei der Behandlung aktueller politischer Fragen glaubten verlassen zu können, zeigte die Form der Anordnung der Bearbeitung einer Broschüre über die nationalsozialistischen Verbrechen bei der Durchführung des »Euthanasie-Programms«, die einen Brief des Bischofs von Limburg, die Predigt des Kardinals Graf von Galen und einen Aufruf Ernst Wiecherts enthielt.

Die kurze Dauer mancher Maßnahmen und der offenkundige propagandistische Hintergrund haben auf die Zielgruppen nur wenig Einfluss gehabt. So ist es kein Wunder,

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wenn Historiker heute feststellen müssen, der weiterwirkende Einfluss der französischen Politik im Bildungsbereich sei nahezu nicht feststellbar gewesen.

Anknüpfungen … deutsche Gestaltungsversuche

So weit es der Bewegungsspielraum der deutschen Schulverwaltung zuließ oder die Besatzungsmacht nicht eingriff, konnten für den Schulbetrieb einige richtungsweisende Regelungen eingeführt werden.

– für die formale Ordnung galt vor allem die Anknüpfung an das traditionelle 9jährige Gymnasium. Rückgriffe auf die Zeit vor 1933 wurden bewusst für die Schulnamen, die Klassenbezeichnungen und die Zeugnisnoten gewählt.

  Der von den Nationalsozialisten offen betriebene Kirchenkampf fand seine Reaktion in der demonstrativen Einführung von Schulgottesdiensten, konfessionellen Schulfeiertagen und Weihnachtsfeiern.

  Bei der Suche nach Möglichkeiten, an positive geistige Traditionen anzuknüpfen, wurden besondere Gedenkveranstaltungen für Gerhard Hauptmann, Martin Luther, Heinrich Heine, Josef Görres, die Revolution von 1848 und das Parlament der Paulskirche, die Verfassung von Rheinland-Pfalz und die Grundrechte angeordnet (1946-1948).

– Zur Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit und politischen Gegenwart wurde durch Hinweise auf die Förderung demokratischer Jugendverbände, die Schändung jüdischer Friedhöfe 1948 und die Anordnung eines Gedenktages für die Opfer des Nationalsozialismus am 12.9.1948 beigetragen. Besonders sollte die »Weiße Rose« gewürdigt werden.

Bereits seit 1946 fanden sich auch Hinweise auf die sich verschlechternden Beziehungen zur Sowjetischen Besatzungszone, die schließlich in einer Sammelaktion »Brüder in Not« für die Flüchtlinge aus der SBZ (Sowjetische Besatzungszone; Anm. d. Red.) gipfelten.

– Zu einer umfassenden Neugestaltung der Lehrpläne ist es in dieser Zeit noch nicht gekommen. Lehrer und Lehrbücher knüpften dort an, wo es vertretbar oder unverfänglich schien. Die Lektürevorschläge für die Unter- und Oberprima von 1948 nennen vor allem Klassiker bis zum 18. Jahrhundert; neuere Namen waren Hauptmann, Thomas Mann, Ernst Wiechert oder lösen. Gegenwartsgeschichte seit 1789 sollte vor allem die Entwicklung der demokratischen Grundrechte betonen. Die Staatsbürgerkunde wurde zur immanenten Verpflichtung und zum Unterrichtsgesichtspunkt aller Lehrer dekretiert, zumindest seit 1948.

Auf dem fast normalen Weg zu einem normalen deutschen Gymnasium

Bevor am 9.9. 1944 die Schule geschlossen wurde, weil die Wehrmacht das Gebäude in Altenkirchen beschlagnahmte, hatte sie in ihren fünf Jahrgangsklassen 205 Schüler, davon 83 Mädchen. Im Lagebericht vom November 1945 wurden 221 Schüler, davon 66 Mädchen, als in die sechs Jahrgangsklassen aufgenommen vermerkt. Damit wurde also in etwa an die Zahlen vor der Schließung angeknüpft. Die weitere Entwicklung hat den

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Bestand als vollausgebaute Schule gesichert. Sie kann an anderer Stelle nachgelesen werden.

Zunächst gab es keine Aufnahmebeschränkungen, doch schon im Dezember 1945 ergingen Anweisungen auf Ausschlug von HJ- und BDM-Führern. Gemessen am Verhalten gegenüber den »belasteten« Lehrkräften wirkte diese Maßnahme rigoros. Die wenigen Fälle in Altenkirchen sind allerdings durch rasche Wiederaufnahme ähnlich wie bei den Lehrern gehandhabt worden.

– Die Zuweisung neuer Lehrkräfte hielt nicht mit dem durch den Ausbau wachsenden Bedarf stand, sodass übergroße Klassen zu einer dauernden Belastung wurden.

– Die Ausstattung mit Lehrmitteln blieb bis 1948 äußerst mangelhaft und war noch im Herbst 1949 eine der Hauptsorgen für eine erfolgreiche Unterrichtsarbeit.

– Selbst die einfacheren Betriebsgrundlagen waren zuweilen nicht gegeben. Eine Papiersparanweisung vom November 1947 forderte, einzeilig und doppelseitig möglichst nur halbe Bögen zu beschreiben, auf den Blättern der Urschriften zu beantworten, nur einfache Ausfertigungen zu senden und keine Umschläge zu verwenden. Die winterliche Beheizung war oft so problematisch, dass Unterricht unmöglich wurde. Er musste noch im Winter 1950/51 deshalb gekürzt werden.

– Die Verkehrsverbindungen nach Altenkirchen waren für die auswärtigen Schüler, vor allem im Nachmittagsunterricht katastrophal. Die öffentlichen Verkehrsmittel mussten immer wieder aus Brennstoffmangel oder wegen fehlender Ersatzteile ihren Betrieb einstellen.

– Die gewonnenen Erkenntnisse lassen sich im allgemeinen übertragen. Die Schule wurde vor allem betroffen, weil bei den hungrigen Kindern ein Leistungsabfall schon am frühen Vormittag beobachtet wurde. Seit 1946 setzten Schulspeisungen ein, die z. T. organisatorische Probleme aufwarfen. So kamen 30g Haferflocken je Kind und Tag im Herbst 1946 zur Verteilung. Erst Ende 1949 hat man auf diese Form der Zusatzernährung verzichtet.

– Ein weiteres Zeichen der Mangellagen war der Arbeitseinsatz der Schüler zu Gemeinschaftsaufgaben, der anfangs auch ausdrücklich erzieherischen Charakter haben sollte. Die Arbeitsräume auf den Dörfern und die späteren Baracken sind unter Mithilfe der Schüler entstanden. Weitere Einsätze hat es bei der Altmaterialsammlung und beim Einsammeln der Kartoffelkäfer gegeben.

Für die innere Entwicklung des Gymnasiums lassen sich viel weniger Belege finden, da sie in den Berichten hinter den formalen Aussagen und angesichts der äußeren Umstände meist nur verdeckt erscheinen, da über den Zeitraum von November 1945 bis Dezember 1947 regelmäßige monatliche Tätigkeitsberichte der Fachlehrer weitgehend erhalten sind, kann – hier auf das Fach Geschichte beschränkt – die Aussage belegt werden, dass der Mut gefehlt hat, auf die aktuellen Fragen der jüngsten Vergangenheit vertieft einzugehen. Statt dessen wurden von der 5. bis zur 10. Klasse in diesem Zeitraum

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ausschließlich Themen der antiken Geschichte von Altägypten bis in Cäsars Zeit behandelt. Die Ablehnung der Politik, wie sie die erwähnte Umfrage von 1946 zu Tage förderte, ist von den Lehrern also nicht abgebaut worden, sie dürfte eher noch der Grundhaltung der Lehrerschaft entsprochen haben.

Für die Zeit ab Mitte 1948 liegen sich die ersten Vorgänge auffinden, die eine aktivere Teilnahme an Fragen der »staatsbürgerlichen Erziehung« verraten.

Ein erstes Beispiel lieferte der Inhalt eines ganzen Monatsberichts an die Besatzungsmacht. Die Ausführlichkeit, mit der der darin abgehandelte Fall« beschrieben wurde, lässt allerdings den Gedanken aufkommen, es sollte hier mit Vorbedacht das Bild einer sich zur demokratischen Ordnung hin entwickelnden Gesellschaft gezeichnet werden. Ein Konflikt zwischen zwei Schülern, der auch handgreiflich ausgetragen worden war, wurde zum Gegenstand einer Gemeinschaftssitzung der Klasse, zu der ein Vater und ein Lehrer eingeladen wurden.

In einer zweistündigen Behandlung des Ablaufs kamen Motive, Hintergründe und psychologische Antriebskräfte zur Sprache, ehe dann der Konflikt als ausgeräumt gelten konnte.

Das andere Beispiel besteht in der Stellungnahme des Kollegiums zu einem Schreiben des Kultusministeriums über die »Rolle der Schule in der Staatsbürgerlichen Erziehung« und ist vermutlich als Konferenzergebnis angefordert worden. Politische Selbsterziehung sollte erreicht werden durch »die zu fröhlicher Verantwortung und Mitarbeit erziehende Haltung aller Lehrkräfte auf der Basis von Freiheit, Ordnung, Zucht, Pünktlichkeit.« Im Detail sollte dies bedeuten, im Schüler Verständnis für das Ansehen der Schule durch sein Verhalten in der Öffentlichkeit zu wecken und ihn innerhalb der Schule zu »Wahrer Kameradschaft, fairem Handeln, würdiger Haltung und Opferbereitschaft für das Schulleben« anzuleiten. In den Fächern sollte die Klärung »verwaschener und verschobener« Begriffe geleistet werden, in der Geschichte der Abbau nationalistischer Betrachtungsweise. Die Wahl der Begriffe zeigt, wie sehr in der Schule der Jahre 1945 bis 1950 die Zielbestimmung schwankte zwischen den herkömmlichen Tugenden und den neuen Ansprüchen der Zeit.

E. Blohm

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